25 Jahre AG Nahtstrumpf – Rückblick auf ein verrücktes Herzensprojekt
Ja, es stimmt wirklich: Die AG Nahtstrumpf gibt es nun seit einem Vierteljahrhundert. Ein bisschen Wahnsinn ist das schon – immerhin existieren wir damit seit rund einem Drittel der Zeit, in der es überhaupt Perlonstrümpfe gibt.
Die Idee zur Webseite entstand Mitte der 1990er, irgendwo zwischen Vorlesungen, Neugier und einer guten Portion technischer Spielerei. Ich studierte damals an einer ostdeutschen Hochschule – mit dem großen Vorteil, dort seit Herbst 1994 einen eigenen Internetzugang zu haben. Damals ein echter Luxus.
Das Internet war jung, unberührt, voller Freiräume. Keine Konzerne, keine Influencer, kein endloses Scrollen. Netscape Navigator war der Platzhirsch unter den Browsern, Microsoft hatte das Internet noch komplett verschlafen, und Begriffe wie „Instagram“ oder „TikTok“ existierten schlicht nicht. MySpace? Noch nicht erfunden. Online-Shopping? Kaum vorhanden. Das Netz war eine Spielwiese – ideal zum Ausprobieren.
Vom Zweifel zur Idee
Irgendwann entstand der Gedanke: Könnte man eine Webseite rund um Nahtstrümpfe machen? Wäre da überhaupt Interesse da draußen? Ich war skeptisch – und legte die Idee erstmal wieder zur Seite.
Aber dann: Im Rahmen eines Studentenjobs entwickelten wir die erste offizielle Homepage unseres Fachbereichs. Und plötzlich kribbelte es wieder in den Fingern. Die Idee ließ mich nicht mehr los. Dieses Mal setzte ich sie um.
Der Startschuss: AG Nahtstrumpf geht online
Die Domain sicherte ich mir 1999 – die ersten Fotos folgten im Frühjahr 2000. Bis dahin war die Seite eine reine Textwüste. Die ersten Bilder? Entstanden auf einem stillgelegten Bergwerksgelände in Edderitz, Sachsen-Anhalt. Schwarz-weiß, analog, ehrlich. Genau wie der Rest des Projekts.
Und dann kam Bewegung rein.
Webrings, E-Mails und echte Gespräche
Zur Verbreitung nutzten wir damals sogenannte Webrings – lose Sammlungen von Webseiten mit ähnlichem Thema. Ob Gothic, Nylon oder Retro – ein paar Klicks genügten, und man war mittendrin. Das genügte, um die ersten neugierigen Besucher auf unsere Seite zu locken.
Und diese Besucher schrieben. Viel. Und vor allem: persönlich. Die E-Mails erinnerten eher an altmodische Leserbriefe als an heutige DMs. Fragen wie:
„Wie bringe ich meine Frau dazu, Nahtstrümpfe zu tragen?“
oder
„Braucht man wirklich Strumpfhalter – oder geht’s auch ohne?“
Das war spannend. Ehrlich. Und oft sogar berührend.
Fotografie als Herzstück
Da ich bereits Erfahrungen mit Schwarz-Weiß-Fotografie und Filmentwicklung hatte, war klar: Fotos müssen mit auf die Seite. Aber nicht kommerziell. Keine Hochglanzinszenierung. Sondern stimmungsvolle Aufnahmen mit echten Menschen an echten Orten.
Das erste kleine Shooting (ebenfalls auf dem alten Bergwerksgelände) war der Start. Die Reaktionen darauf? Positiv. Und das gab Rückenwind.
Fotoshootings, Begegnungen und kleine Katastrophen
Bea, Bodycult & analoger Charme
2001 ging es weiter: Dieses Mal mit Bea – einem erfahrenen Model – und einer ganz besonderen Location: der Latexmanufaktur Bodycult in Werdau. Für uns war das eine spannende Kombination: Ästhetik, Offenheit, handwerklicher Charme.
Das Shooting war in Farbe, aber weiterhin analog. Keine Digitaltechnik, kein Photoshop. Einfach Kamera, Licht, Atmosphäre. Die Crew von Bodycult war locker und hilfsbereit – es war eines dieser Shootings, bei denen einfach alles passte.
Tracy & die Moritzbastei
Ein Jahr später landeten wir mit Model Tracy erneut einen Glückstreffer – diesmal in der Leipziger Moritzbastei. Wer Leipzig kennt, weiß: Das ist nicht nur ein Ort, sondern ein kleines Universum aus Geschichte, Katakomben und subkultureller Energie.

Tracy war ein Profi – man kannte sie aus Magazinen wie FHM oder Maxim. Aber vor allem war sie als Mensch angenehm, offen und kreativ. Die Zusammenarbeit war großartig. Die Moritzbastei stellte uns kostenlos Räume zur Verfügung, die Mitarbeiter packten mit an, und wir entdeckten nebenbei unterirdische Gänge, die man als normaler Besucher nie zu Gesicht bekommt.
Tracy brachte auch eine neue Idee ins Spiel: Zur Refinanzierung der Shootings könnten wir ihre getragenen Strümpfe verkaufen. Gesagt, getan – mit erstaunlich gutem Erfolg.
Und plötzlich: Workshops mit „unseren“ Models
Ein Jahr nach dem Shooting mit Tracy veranstaltete ein externer Anbieter einen kommerziellen Nylons-Fotoworkshop – mit Bea und Tracy als Modelle. Preis: stolze 150 DM pro Teilnehmer. Wir waren also offenbar nicht die Einzigen, die die Qualität unserer Models zu schätzen wussten.
Titel „Halbwegs spannend“ – oder: Sponsoring mit Haken
Ein Highlight (oder eher Kuriosum) kam nach dem ersten Shooting mit Bea: Ich erhielt eine Mail von einem begeisterten Besucher. Voller Lob für Bea, Location, Licht, Bildaufbau – alles fand er „spannend-erotisch“ und „ästhetisch“. Doch es blieb nicht bei Komplimenten.
Er bot an, die kompletten Kosten für ein nächstes Shooting zu übernehmen: Model, Anreise, Location, Ausstattung – alles. Der Haken? Er wollte beim Shooting „als beobachtendes Auge“ dabei sein.
Ich habe freundlich, aber bestimmt abgelehnt.
Wenn’s mal daneben geht: Das Shooting mit Fegefeuer
Nicht alles lief glatt. Das beste Beispiel: Unser geplatztes Shooting mit Model Fegefeuer in der Tangofabrik Leipzig. Die Location war großartig – ich kannte sie von Gothic-Events. Der Betreiber war offen und stellte uns großzügig zwei Stunden zur Verfügung.
Doch das Model steckte auf der A2 im Stau, die Zeit lief davon – und wir mussten improvisieren. Neue Location? Das Völkerschlachtdenkmal mit angrenzendem Südfriedhof. Klingt dramatisch, aber: Das Shooting war nichts. Keine Stimmung, keine Magie. Es blieb ein Beispiel für: „Hätte klappen können, tat’s aber nicht.“
Analoge Endphase, digitale Zeitenwende
Es folgte noch ein weiteres analoges Shooting mit erfahrenem Model – aber wir spürten es: Die Zeiten änderten sich. Digitalkameras setzten sich durch, das Internet wandelte sich vom offenen Info-Ort zur kommerzialisierten Bilderflut. „Content, Content, Content“ war plötzlich das Motto – und überall blinkte Werbung.
Für uns war klar: Da wollen wir nicht mitmachen. Kein Shop, kein Paywall, keine Kommerzialisierung. Die AG Nahtstrumpf blieb ein Hobby – ein Projekt aus Freude an der Sache. Und das war gut so.
Handgemachte Strümpfe, Latex-Experimente & der Zufall als Motor
Wie alles begann: Ein Gothic-Nähforum und ein Stück Stoff
Die Idee, Strümpfe selbst zu nähen, entstand nicht aus einem Businessplan, sondern – wie so oft – aus einem Forum: Im heute längst verschwundenen Gothic-Nähforum „Natron und Soda“ fragte jemand, ob man besondere Strümpfe auch selber machen könne.
Klar, dachte ich – und stand kurz darauf in der Stoffabteilung von Karstadt Leipzig.
Ein Stoff war schnell gefunden, die Overlock-Maschine sprang an. Die ersten Entwürfe: offene Rückseite, mit gekreuzter Schnürung. Doch bald kamen Anfragen: „Geht das auch ohne Schnürung – dafür transparenter?“ Das war der Startschuss für die Entwicklung eines Schnittmusters, das auf individuelle Maße abgestimmt werden konnte.
Strumpftests, Maßtabellen und neugierige Freundinnen
Mit der Hilfe einiger Freundinnen aus der schwarzen Szene in Leipzig – damals noch regelmäßig versammelt in der Kneipe „Sixtina“ – ging’s in die Testphase: dünne Waden, kräftige Waden, große und kleine Beine – alles sollte abgedeckt sein.
Eine Besucherin fragte irgendwann ganz direkt: „Kann man die eigentlich auch kaufen?“
Meine Antwort: „Vielleicht – aber erstmal brauche ich noch ein paar Testerinnen.“
Kurz darauf standen drei neue Testerinnen bereit, Maßen wurden genommen, Strümpfe genäht, Passform geprüft. Das Gruppen-Fitting war ein ziemlich cooler Anblick – und vielleicht heute gar nicht mehr so einfach öffentlich zu besprechen 😉
Erster öffentlicher Auftritt: Schwarzes Leipzig tanzt
Dann der erste „richtige“ Auftritt: WGT, Moritzbastei, Leipzig.
Unsere handgemachten Strümpfe wurden dort bei „Schwarzes Leipzig tanzt“ zum ersten Mal öffentlich getragen. Ein schöner Moment. Und ein Beweis: Die Idee hatte funktioniert.
Natürlich kam irgendwann der Ingenieur in mir durch – und so entwickelte ich ein numerisches Modell zur Schnittmusteranpassung, das sich präzise an individuelle Beinmaße anpassen ließ. Ziel: Strümpfe, die nicht rutschen, nicht zwicken, einfach sitzen.
Maschine, Mexiko, Magie
Dann – fast zu schön, um wahr zu sein – tauchte nach gezielter Suche eine echte Strumpfnähmaschine aus den 50er Jahren auf. Kaum genutzt, technisch top.
Das Problem: Die passenden Nadeln waren selten. Die Lösung: Ein Spezialist aus Mexiko, der in Deutschland studiert hatte und uns weiterhelfen konnte. Die Kommunikation lief reibungslos – ein glücklicher Zufall, der unsere Qualität nochmal massiv verbesserte.
Mit der Maschine wurden unsere Nähte wirklich gut. Und über Mundpropaganda in der Szene kamen bald die ersten Kaufanfragen. Die Strümpfe verkauften sich – zunächst ohne Shop, einfach direkt. Später dann auch auf DaWanda, mit durchweg positiver Resonanz.


Kunden aus… der ganz anderen Branche
Ein eher ungewöhnlicher Auftrag kam von einem Erotikdienstleistungsbetrieb. Die Anfrage: stabile, schwarze Strümpfe für das Personal. Ich sagte zu – und lieferte. Ob sie sich im Alltag bewährt haben? Keine Ahnung. Rückmeldung gab’s nie. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen.
Nächste Station: Der AG Nahtstrumpf Strumpfhalter
Auch der entstand eher aus einem Gespräch als aus Planung. Eine Leipziger Testerin hatte einen einfachen Strumpfhalter – aber war damit unzufrieden. „Kannst du nicht einfach einen guten nähen?“
Klar. Ich probierte, tüftelte, passte an – und irgendwann entstand ein bequemes, sicheres Modell mit einem leicht nachzunähenden Schnittmuster. Und weil’s so gut klappte: Hier ist es heute noch zu finden.
Latex, Laufmaschen und fast berühmte Beine
Latexstrümpfe? „Kann man nicht nähen!“ – oder doch?
Die Latex-Idee entstand – natürlich – bei einem dieser legendären Vortreff-Abende während des Wave-Gotik-Treffens in unserer Leipziger Wohnung. Irgendwann fragte jemand leicht angetrunken:
„Warum machst du eigentlich keine Latexstrümpfe?“
Meine spontane Antwort: „Weil man Latex nicht nähen kann – die Nähte reißen.“
Darauf die Gegenfrage: „Hast du’s jemals ausprobiert?“
Touché.
Kurz nach dem WGT 2011 begann das Experiment: die ersten genähten Latexstrümpfe der AG Nahtstrumpf entstanden. Und ja – mit dem richtigen Material, Fadenspannung, Nähtechnik und etwas Geduld ging das ziemlich gut.

Und dann eine Bestellung einer amerikanischen Prominenten
Irgendwann bestellte eine amerikanische Prominente ein Paar unserer schwarzen Latexstrümpfe. Dies war natürlich eine Ehre. Doch die Sache hatte einen Haken – diese Prominente wollte das Paar kostenlos haben. Ich dachte: nicht schon wieder unbezahlte Praktikantenarbeit und schrieb eine nette Absage.
Latex für Dove Knutsen
Wenig später meldete sich ein Fotograf aus Schweden bei uns: Dove Knutsen, bekannt für stilvolle Latexfotografie. Er hatte unsere Latexstrümpfe gesehen – und war interessiert.
Wir fertigten einige Paare für ihn an, die dann in diversen Shootings mit internationalen Models eingesetzt wurden. Viele davon sind bis heute auf Instagram @dovearea zu sehen.
Ein echter Ritterschlag für unser kleines DIY-Projekt. Zu sehen sind die Fotos zum Beispiel bei Instagram

Fast im Modemagazin – aber eben nur fast
Der vielleicht aufregendste Moment: Eine Anfrage eines großen internationalen Modemagazins. Sie wollten unsere Latexstrümpfe für ein Editorial-Shooting.
Problem: Es blieb kaum Zeit, Maße zu erfragen. Wir bekamen nur diese knappe Info der Stylistin:
„The girls are about 1.80 tall. One of them has really big feet – size 42! The other size 39–40. They are both slim – size 34–36.“
Also hieß es: Nähen im Blindflug, nach Fotos geschätzt. Zwei Paar wurden angefertigt und express verschickt – alles klappte. Doch beim Shooting riss eines der Modelle beim Anziehen einen Strumpf – keine Erfahrung mit Latex, zu viel Hektik.
Ein latexloses Model passte leider nicht ins Konzept – und so wurden beide nicht verwendet. Schade – aber trotzdem eine schöne Geschichte.
Wunschfotos & absurde Ideen
Immer wieder fragten Besucher:innen: „Habt ihr auch Bilder von…?“
Ich dachte immer: Das Internet ist doch voll davon. Aber offenbar nicht mit dem, was sie wirklich sehen wollten.
Also starteten wir eine kleine Aktion: „Was wollt ihr sehen?“ – Die Vorschläge? Faszinierend! Besonders gefragt waren z. B. Makroaufnahmen von Strumpffalten, in allen Varianten.
Wir versuchten einige dieser Wünsche fotografisch umzusetzen – ein paar Ergebnisse findet man noch heute auf der Seite.
Anfragen aus Leipzig – und aus der anderen Ecke
2015 kam eine etwas andere Anfrage: Ein Leipziger Projekt plante ein Erotikshooting und fragte, ob ich als bezahlter Fotograf dabei wäre – inklusive Strumpfauswahl.
Klingt interessant, aber dann kam unser Umzug nach Schweden dazwischen. Ob das Shooting je stattfand, weiß ich nicht.
Ein Freund fragte mich einmal ganz ernst:
„Sag mal, sind deine Latexstrümpfe eigentlich schon mal in einem Porno gelandet?“
Ich weiß es nicht. Zumindest keine erkennbare Bestellung war eindeutig „filmreif“.
Aber wenn ja – es wäre mir wohl eher eine Ehre als ein Problem 😉
Schnelle Hilfe vor dem Date
Eine kleine Anekdote zum Schluss:
Eine Freundin hatte kurz vor Weihnachten ein spontan angesetztes Date, bei dem das Outfit noch „eine Stufe schicker“ werden sollte. Ihre Lösung: schwarze Nahtstrümpfe.
Meine Aufgabe: Express-Lieferung innerhalb Leipzigs – und zwar mit der Strassenbahn, in Rekordzeit.
Mission geglückt.
Reparieren, färben, ausprobieren
Natürlich mussten auch Laufmaschen-Reparaturen ausprobiert werden. Ich hatte mal eine alte Repassiermaschine bekommen – und sogar eine Anleitung zum Repassieren von Nylonstrümpfen.
Funktioniert? Ja. Aber nur mit viel Übung und einem scharfen Auge. Und selbst dann sieht man’s.
Wäre wohl nichts für die heutige Wegwerfgesellschaft – aber für uns war’s ein schönes Retroexperiment.
Genauso wie das Färben von Nylonstrümpfen mit Pflanzenfarben. Und: Das ging überraschend gut. Die Farben waren intensiv, langlebig, waschfest – und sahen großartig aus. Selbst ausprobiert: empfehlenswert.
AG Nahtstrumpf in Funk & Fernsehen? Fast und dann doch wirklich.
Im Laufe der Zeit gab’s Anfragen von Tageszeitungen, Fernsehsendern, sogar von Rateshows (!), in denen man erraten sollte, was mein „Hobby“ sei. Ich habe damals freundlich abgelehnt.
Trotzdem kam es zu kleinen Beratungen für Film- und Fernsehproduktionen, bei denen es um historische Authentizität ging:
„Welche Nahtstrümpfe waren 1942 üblich?“
„Welche Modelle trug man in den 50ern?“
Diese Art von Detailtreue beeindruckte mich – und es war mir eine Ehre, helfen zu dürfen.
Und heute?
Viele Webseiten aus der Anfangszeit sind verschwunden. Und mit ihnen: ästhetische Fotografie, persönliche Handschrift, liebevolle Details.
Stattdessen: Massencontent, Algorithmen, Likes.
Klar, auch das hat seine Berechtigung – aber wir sind froh, nicht mitgezogen zu sein.
Ob es die AG Nahtstrumpf in 10 Jahren noch gibt? Keine Ahnung.
Aber solange es da draußen ein paar Menschen gibt, die sich für Strümpfe, Geschichte und Ästhetik begeistern – machen wir weiter.
Ganz ohne Eile. Ohne Kommerz. Und mit viel Herz.
Danke
Danke für eure Besuche, eure Nachrichten, eure Fragen.
>Danke an alle Mitwirkenden, Modelle, Testerinnen, Fotopartner, Helfer und Helferinnen, Freundinnen.
Ohne euch wäre AG Nahtstrumpf nur ein alter HTML-Baukasten.
Mit euch wurde es eine Geschichte.